Probefahrt Yamaha Tracer 700 bei +37°C, im Feierabendverkehr, durch die von der Hitze verursachte Dosenfahrer-Gehirnpest im Märkischen Kreis erschwert, mit stark belastetem Nervenkostüm überstanden, wenn nicht zu sagen überlebt:
Motor: ein wahrer Freudenspender. Hängt wunderbar geschmeidig am Gas, dreht lässig und gut kontrollierbar hoch, ist zudem superpotent, pulsiert bzw. knurrt mit angenehmer Note und ist fast über das gesamte Drehzahlband sofort und ohne Murren zur Leistungsabgabe bereit. Du sagst "hol das Stöckchen!", und das Ding spurtet los. Augenblicklich. Lässt sich im Bedarfsfall sehr schaltfaul fahren. Totaler Fahrspaß der Extraklasse!
Schalterei: Kupplung bzw. Getriebe arbeiten anstandslos/neutral. Keine Hakeleien. Die Gänge flutschen rein. DCT-verwöhnt, habe ich mal zu spät, mal zu früh geschaltet und vor mancher Ampel die Gänge sortiert. Den Leerlauf muss man nicht suchen, den findet man quasi instinktiv, muss man gar nicht auf die Ganganzeige schauen. Die Schaltwege sind insgesamt kurz. Nach 30 Minuten Fahrt habe ich mir um die Schalterei keine Gedanken mehr machen müssen. Der nicht einstellbare Kupplungshebel ist locker mit einem Finger zu bedienen (ich habe relativ kurze Griffel).
Fahrwerk: alles eine Spur komfortabler als bei der NC (X). Um einiges schluckfreudiger. Dabei sehr stabil (in weiten, schnelleren Kurven). Bei höherem Tempo auf der Autobahn kamen ein paar harte Schläge durch, aber das kenne ich auch von der X. Ansonsten ist mir während der einstündigen Fahrt nichts weiter negativ aufgefallen. Für einen "normalen" sportlicheren Landstraßenbetrieb sollte das Fahrwerik ausreichend gut arbeiten. Dann hatte ich noch das Gefühl, dass das Heck ein wenig höher liegt als die Front (?).
Bremsen: Vorderradbremse arbeitet unspektakulär aber zufriedenstellend. Sie ist gut dosierbar und hat einen klaren Druckpunkt. Allerdings scheint der Bremsweg etwas länger zu sein als bei den NCs, und das ABS regelt etwas grobmotorischer. Obwohl nur eine Scheibe, macht die NC-Bremse einen viel kräftigeren Eindruck. Bei der Hinterradbremse ist die Sachlage noch klarer: die scheint auf der Tracer nur aus optischen Gründen und der Vollständigkeit halber installiert zu sein. Erstmal hat man einen Leerweg von gefühlten 5 Zentimetern, und dann passiert auch länger mal gar nichts, bis dann ein eine sehr zaghafte Verzögerungsandeutung zu erahnen ist. Bis dahin zeigt die Stiefelspitze direkt auf den Asphalt. Krass.
Ergonomie: fantastisch! Auf der NC X lässt es sich gut Platz nehmen? Probiert mal die Tracer 700 aus ... Die Sitzhöhe liegt bei 835 mm, die Rasten sind verhältnismäßig tief positioniert. Der Lenker hat die perfekte Höhe und fällt einem quasi von selbst in die Hände. Größere Fahrer bemängeln eine zu tief angebrachte Instrumenteneinheit. Kann ich mit meinen 174 Zentimetern nicht bestätigen. Der sehr komfortable Sitz bietet viel Raum für Bewegung, der Kniewinkel dürfte auch für lange Kerls noch recht offen sein. Ehrlich gesagt, wieder auf meiner X, fühlten sich die ersten Kilometer vergleichsweise unbequem(er) an. Windschild ist einen Tick besser als bei der X. Er ist leiser und für seine geringe Größe erstaunlich effektiv. ebenso die ausladende Halbschalenverkleidung und die optisch etwas verunglückten Handguards. Für die Landstraßenreise alles gut, auf der AB aber nur wirksam bis ca. 130 km/h, darüber wird's rasch lauter und ... wackeliger (vermute, wg. dieser Handguards). Langsamer fahrend, wird der Winddruck aber effektiv aufgefangen und abgeleitet (was ja im Prinzip auch reicht). Windschlüpfrig geht jedoch anders. Na ja, dahingegen hat die X halt diese doofe Standardscheibe.
Erwähnenswertes Sonstiges: vollgetankt 195 Kilogramm, 17 Liter im Tank, theoretische Reichweite locker bei 450 Kilometer. Das Betanken erfordert bei den letzten Tropfen erhöhte Aufmerksamkeit, das geht tatsächlich randvoll. Der Tankverschluss sieht allerdings so billig aus, wie er es wahrscheinlich auch ist. Seitenständer ist gut erreichbar und macht einen soliden Eindruck. Die Maschine hat einen wirklich kleinen Wendekreis, ist wegen dem geringen Gewicht auch supereinfach zu rangieren. Instrumente sind bei direkter Sonneneinstrahlung nicht ablesbar, auch diese gelochte Metallschiene am Lenker blendet. Windschild ist höhenverstellbar. Die geraffelte Kabelsammlung am Lenker macht einen unaufgeräumten, witterungsanfälligen Eindruck (würde ich auf der Stelle nachbessern). Aufgezogen waren Michelin Pilot Road 4, keine Ahnung, ob das Standarderstbereifung ist. Dieser Reifen hat mich nicht so überzeugt. Vielleicht war es ihm zu warm. Oder der Reifendruck passte nicht so ganz. Er wirkte irgendwie "klebrig" im Vergleich mit den Pirelli Angel GT auf meiner X.
Finish insgesamt: viel Plastik, Lackierung nicht besonders aufregend, aber sauber. Ebenso sind die Schweißnähte und Verschraubungen, so weit sichtbar, in Ordnung. Viele Teile wirken billig, Ausgleichsbehälter, Tankstutzen, Verkabelung, Hand- und Fußhebel, Griffe u. Lenkerenden, Kettenschutz und noch einiges mehr könnten einer beschleunigten Korrosion anheim fallen, wenn man die Pflege/Wartung nicht gründlich im Auge behält. Kurz, man sieht sofort und auf einen Blick, woran bei diesem Bike gespart wurde. Trotzdem geht sie haptisch und optisch für mich durch die Endkontrolle. Fahren ist wichtiger als gucken, Funktion steht über ästhetischem Mehrwert. Deshalb fahre ich im Augenblick ja auch eine NC X. Auf die Tracer trifft das auch zu, wenn auch um einiges direkter, ungeschönter. Man sieht genau, was man für sein Geld bekommt, nicht mehr, aber auch kein Gran weniger. Eine ehrliche Sache.
Fahreindrücke: Ich habe mich auf der Tracer 700 rundum wohl gefühlt. Der Motor ist einfach nur geil. Die Maschine pfeilt präzise in die Kurven. Das Fahrwerk findet einen akzeptablen Kompromiss zwischen straff und rückenfreundlich, inkl. verlängertem Rücken - ergonomisch scheint alles auf eine Type wie mich abgestimmt zu sein. Zudem fährt sich die Tracer kinderleicht. Schalten, bremsen, (ein-)lenken, alles funktioniert nach ein paar Minuten der Eingewöhnung völlig intuitiv und problemfrei. Dabei ist die Tracer agil genug (und in dieser Disziplin sowieso besser als die NC X), ohne ins Kippelige abzugleiten (was wegen der Bereifung nur ein subjektiver Eindruck sein kann). Mit ihren 75 PS u. 68 Nm hat sie genau den Punch, den ich auf der Landstraße gern hätte. Und wieder im direkten Vergleich wirkt die X dahingegen ziemlich träge - ein Eindruck, der sich erst später am Tag wieder ein wenig relativiert hat. Auch wenn das vielleicht seltsam klingt, die Tracer hängt dabei sehr viel weicher am Gas, dagegen ist die X geradezu ruppig. Was für einen erstaunlichen und entzückenden Motor die Yamahaner da hingezaubert haben, ich bin wirklich beeindruckt!
Persönliches Fazit: zwiegespalten. Weiß nicht so genau, was ich von der Tracer 700 halten soll. Sitzt man drauf und fährt, ist man begeistert. Steht man davor und betrachtet sie, kommt man ins Grübeln. Das ist alles wirklich der Inbegriff von einem Budget Bike. Dagegen wirkt eine NC (X u. S) geradezu edel. In etwa, als wenn man einen sauber gestriegelten Collie neben eine struppige Promenadenmischung stellt. Allerdings scheint diese Promenadenmischung die Gene von Windhund und Bullterrier geerbt zu haben. Was die Angelegenheit sehr überdenkenswert macht. Wenn man sich darüber im Klaren ist, was die Tracer 700 ist, bzw. was man für sein Geld bekommt und eben nicht, was sie leisten kann und was eben nicht, könnte die Entscheidung zum Kauf relativ schnell fallen. Wenn man aber nunmal ein Fan von gestriegelten Collies ist, nun ja, ist die Sachlage wohl auch klar. Wie dem auch sei, die Tracer bleibt vorerst auf meiner Liste.
Gruß
Jörg